Landschaft mit weißem Brautschleier

Wikinger aus Norwegen haben um 860 v. Chr. die Insel unter dem Polarkreis entdeckt. Den Eroberern gefiel das leere Land mit seiner felsigen Küste, den gewaltigen Wasserfällen und dem Fischreichtum des Meeres.
Foto von Bernd Siegmund
Foto von Bernd Siegmund

Zuerst hört man ihn. Da ist so ein leises, undefinierbares Grummeln in der Luft, das stärker und stärker wird, je näher man kommt. Magisch zieht es den Besucher an den Rand eines 100 Meter breiten, schnell fließenden Flusses, der auf eine Abbruchkante zutreibt. Aus 44 Metern Höhe stürzt der Gletscherfluss Jökulsá à Fjöllum mit lautem Gebrüll in den Canyon. Der Fall zerlegt das Nass in Milliarden mikroskopisch kleinster Wassertröpfchen, die wie ein weißer Brautschleier in der rabenschwarzen Basaltlandschaft hängen. Und als wäre all dies nicht schon Schönheit genug, reißt plötzlich der Himmel auf, und die Sonne krönt das faszinierende Naturspiel mit einem herrlichen Regenbogen. So schnell, wie er an den Himmel gemalt wurde, so schnell verlischt er auch wieder. Grau ist es, und Wolkenfahnen schleifen übers Land. Leise beginnt es zu regnen.

Es ist nicht richtig, dass die Isländer ihre Island-Tiefs nur deshalb zu uns schicken, um sie möglichst schnell los zu sein. Die Isländer leiden gerne unter ihrem eigenen Wetter. Es ist ein ewiges Gesprächsthema. Unzählige Witze werden darüber gemacht, endlos ist die Zahl ihrer Ratschläge: "Wenn Ihnen das Wetter nicht gefällt, warten Sie fünfzehn Minuten. Dann wird es schlechter." Das Inselwetter kann binnen Sekunden umschlagen. Auf Regen folgt Sonne. Doch leider ist sie oft nur eine strahlende Blenderin. Wehe dem, der ihren heißen Schwüren glaubt. Kalt lässt sie den Verführten im Regen stehen ... Deshalb sollte jeder Islandfahrer winddichte Regensachen zur Hand haben, wenn er sich in die Natur begibt. Und warme Klamotten zum Wechseln. Auch im isländischen Sommer. Der bringt es in Reykjavík immerhin auf durchschnittlich 11,2 Grad im Juli. Und da sind Ausrutscher nach oben und unter schon eingerechnet.

Der Dettifoss im Nationalpark Jökulsárgljúfur gehört zu den schönsten Wasserfällen auf Island. Und es gibt viele davon. Einige haben nicht einmal einen eigenen Namen. Selbst die gut 70 km entfernt liegende, kompakte Landzunge zwischen den Buchten Skagafjördur und Eyjafjördur war jahrhundertelang namenlos. Erst 1900 wurde sie umbenannt in Tröllaskagi, Halbinsel der Trolle. Hier ist das Zauberreich der Unsichtbaren aus der "Anderswelt". Der Volksglaube an die Elfen ist unter den 300.000 Isländern tief verwurzelt. Selbst Bürger ohne ausgeprägten Hang zum Spiritismus sind sich nicht sicher, wenn es um die Existenz dieser Wesen geht. Zwar glauben einer Umfrage zufolge 70 Prozent nicht an die Schattenwesen. Scharf nachgefragt, ob sie denn eine Wiese mähen würden, auf der Elfen leben, antworteten dieselben Personen mit einem entsetzten Nein.

Bekannt ist die Geschichte jener Straße, die von Reykjavik kommend nach Nordosten führt, und auf der ein gewaltiger Felsbrocken im Weg liegt. In den 1990er Jahren, als die Straße verbreitert werden sollte, versuchte man, die Riesenklamotte zu beseitigen. Doch es gelang nicht. Mal kippte ein Bagger um, dann wieder ging ein Lkw kaputt oder Regen unterspülte die Fahrbahn. Als die Verzweiflung groß war, meldete sich eine Frau zu Wort und erzählte, ihr wäre im Traum eine Elfe erschienen, die sich bitter darüber beklagte, dass man ihr die Wohnung rauben wolle. Ein großes Unglück würde passieren, wenn der Stein nicht liegen bliebe. Und was tat die Straßenbaubehörde? Sie verlegte die Trasse um einige Meter, ließ den Stein unter Naturschutz stellen, und fortan herrschte Ruhe! So pragmatisch lösen die Isländer ihre Probleme.

Entstanden ist das Elfenvolk übrigens der Legende nach durch eine Notlüge. Die Elfe Eva, so erzählt man, sei gerade dabei gewesen, ihre zahlreichen Kinder zu waschen, als plötzlich Gott zu Besuch kam. Schnell versteckte sie ihre ungewaschenen Sprösslinge, und präsentierte ihm die blitzblanken. Als Gott gütig fragte, ob er denn all ihre Kinder gesehen habe, antwortete sie: "Ja!" Doch Gott kann man nicht hintergehen. "Wenn du deine ungewaschenen Kinder vor mir versteckst, dann sollen sie für alle Zeiten unsichtbar sein", rief er zornig. So wurden aus den sauberen Kindern die Menschen, und aus den schmutzigen die unsichtbaren Wesen.

In einem Land aus Feuer, Wasser und Eis, meinte ein Isländer entschuldigend, in dem es über Monate hinweg kaum hell werde, ist es nur verständlich, dass viele Menschen glauben, es gäbe mehr Dinge in der Welt, als ein normaler Mensch wahrnehmen könne. Island ist eben ein Seelenland.

Text und Fotos von Bernd Siegmund

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