Soglio ist ein Seh-Vergnügen. Das Gesicht des Dorfes im Schweizerischen Bergell ist gezeichnet von engen, krummen Gassen, die sich nur selten einem rechten Winkel beugen mussten. Geduckt stehen die Häuser aus Gneisstein links und rechts der Dorfstraße und gucken aus kleinen Fensteraugen in die Welt. Die meisten von ihnen sind geschmückt mit farbenfrohen Blumen, die das Grau der Steine freundlich aufhellen. Soglio, 1186 erstmals urkundlich erwähnt, hat sich mit Charme seine Ursprünglichkeit bewahrt.
Das Dorf, 1088 m über dem Tal gelegen, siedelt auf einer Sonnenterrasse, die den Blick auf den schneebedeckten Piz Badile (3.308 m) und den Piz Cengale (3.368 m) frei gibt. Nahe am Abhang steht das Wahrzeichen des Dorfes, die Kirche St. Lorenzo. Bis weit ins Land hinein grüßt ihr schlanker Companile, der freistehende Glockenturm. 2015 wurde Soglio zum schönsten Dorf der Schweiz gewählt.
Hotel-Pension Willy
Wer stilvoll in Soglio nächtigen möchte, der bezieht ein Zimmer im Palazzo Salis. Ohne näher auf die ruhmreiche Geschichte derer von Salis eingehen zu wollen, diente der stolze Bau von 1701 viele Jahre der Herrschaft als standesgemäße Unterkunft. 1876 dann wurde das Haus plötzlich an Pfarrer Willy verpachtet. Der machte die "Hotel-Pension Willy" daraus. Dieser etwas stillose Name hinderte den berühmten Rainer Maria Rilke nicht daran, 1919 für einige Wochen im "Willy" zu nächtigen. Noch heute ist sich das Hotel dieser Ehre bewusst.
Der französische Garten hinter dem Haus hatte es Rilke besonders angetan. Wie "offen und doch voller Verstecke" er sei, schwärmte der Poet, "wie einfach und ländlich …" Einen Garten, "genau wie diesen", wünschte sich Rilke für sein Zuhause. Heute zeigt sich das grüne Geviert gepflegt. Hier können die Gäste Kaffee trinken, sich der Ruhe hingeben und übers Leben nachdenken. Zwei Mammut-Bäume, ein lebender und ein abgestorbener, helfen dabei.
Eine Frage beschäftigt Rilke-Fans bis heute. In welchem Bett hat der Dichter wohl geschlafen? Man weiß es nicht. Ein weiblicher Hotelgast mittleren Alters wollte dieser Frage ein Schnippchen schlagen und buchte für jede Nacht ein anderes Zimmer. Wenigstens einmal auf der Rilke-Matratze liegen! Charlotte von Salis, die Chefin des Hauses, meinte dazu nur: "Vergebene Liebesmüh, das Haus hat natürlich längst neue Matratzen."
Sammeln verboten
Marco Giovanoli (61) lebt und arbeitet in Soglio. Er ist Kastanienbauer. Alles in seinem Leben, oder fast alles, dreht sich um die Edelkastanie, die Castanea sativa. Zirka 50 Bäume besitzt der drahtige, sympathische Mann. Sein ältester Kastanienbaum ist gut 500 Jahre alt. Würdevoll steht er mit mächtigem Stamm und ausladender Krone im Kastanienhain bei Soglio. Bis ein Baum Früchte trägt, dauert es 20 bis 30 Jahren. Vier Kastaniensorten wachsen im Bergell, die Ensat, die Lüina, Vescuv und Marun. Besser bekannt als Maroni. Jede Sorte hat ihre Besonderheiten. Die Lüina ist klein, süß und reift erst spät im Jahr. Die Ensat eignet sie sich sehr gut zum Trocknen. Die Vescuv genießt man am besten frisch, die Maroni dagegen zeigt ihre großen Qualitäten über offenem Feuer. Zirka drei Tonnen Kastanien erntet Giovanoli im Jahr. Jahrzehntelang waren die Früchte Grundnahrungsmittel für Mensch und Tier. Heute ist das nicht mehr so.
Wir befinden uns im Kastanienhain. Man glaubt, in einem gepflegten Park zu stehen. Nichts erinnert an einen Wald. Die Bäume, erklärt Giovanoli, sind nicht wild gewachsen, seine Familie hat sie über die Jahrhunderte hinweg viel Arbeit investiert, die schönen Bäume gesetzt und mit Herzblut gepflegt. Nun versteht man die Schilder, die überall mahnen: "Sammeln verboten! Privatbesitz! Die Esskastanien sind die Früchte unserer Arbeit."
Wie im echten Leben
Sattes, freundliches Grün umgibt die mächtigen Bäume. Das Gras hier wird regelmäßig geschnitten, um die Igel, die vom Baum fallen, weich aufzufangen. Igel, italienisch "riccio", heißen die mit gefährlich scharfen Spitzen bewehrten stachligen Kastanienhüllen. Auch die deutschen Früchte sind gut eingepackt, aber ihre Stacheln sind weich und pappich. Marco Giovanoli: "Wer unter Kastanienbäumen arbeitet, darf nicht nach oben sehen. Zu groß ist die Gefahr, von einem Igel im Gesicht getroffen zu werden. Besonders die Augen sind gefährdet. Es hat schon schlimme Verletzungen gegeben."
Wie werden die Kastanien eigentlich geerntet? Man kann doch die mächtigen Bäume nicht schütteln. Marco Giovanoli lacht. "Nein, nein, die Igel fallen von allein zur Erde. Dann, wenn sie reif sind. Idealerweise hat es einige Tage zuvor geregnet und ein ruppiger Wind fegt vom Gebirge her, rüttelt an den Ästen, trocknet die Früchte und lässt die Kastanien fallen."
Im Herbst ist Erntezeit. Da werden alle Hände gebraucht. Landarbeiter und die ganze Familie Giovanoli sammeln die Kastanien und bringen sie zum Räuchern in die Cascina. Die Decke des Räucherhauses ist niedrig, die Wände und Balken sind pechschwarz. Es riecht höllisch. Eine steile Leiter führt in den oberen Stock. Hier liegen die Kastanien auf Holzlatten. Dicker Rauch hüllt sie ein. "Das Räuchern dauert bis acht Wochen", erzählt Marco Giovanoli. In dieser Zeit kommt er jeden Tag ins Dörrhaus, um die Kastanien zu wenden und das Feuer am Schwelen zu halten. "Es darf weder ausgehen noch zu stark brennen", sagt er. "Die Temperatur ist das Geheimnis. Es kommt auf das rechte Maß kommt es an. Wie überall im Leben."
Text und Fotos von Bernd Siegmund