Heute ist die Stadt selbst ein Ziel! Und immer ausgebucht.
Die Fahrt vom Flughafen Keflavik in die 60 km entfernte Hauptstadt führt durch graue, mit Moos bewachsene Lava-Felder. Es regnet in Strömen. Und leise, ganz leise, wächst der Zweifel, ob der Entschluss, hier im April vor Anker zu gehen, richtig war. Doch je näher wir der nördlichsten Hauptstadt der Welt kommen, desto freundlicher werden die Aussichten. Islands Wetter kann binnen Sekunden umschlagen. Und wirklich: Plötzlich bricht die Sonne durch die Wolken und taucht Land und Leute in warmes, gelbes Licht.
Dampf aus allen Ritzen
Kurz vor Reykjavik wird die Bebauung immer artenreicher. Zweigeschossige Reihenhäuser, kleine Villen, Gehöfte, die ersten Hochhäuser, Reykjavik ist, gemessen am Umfang der Insel, eine überraschend große Stadt. Gut vierzig Prozent aller Insulaner leben hier. Genau 128.793 waren es im Januar 2019.
Der erste Mensch, der sich auf Island zuhause fühlte, war der Wikinger Ingolfur Arnarson. Das war im Jahre 870. Dem guten Mann gefielen die felsigen Küsten, die riesigen Wasserfälle und der Fischreichtum des Meeres. Kurzerhand nahm er hier Quartier und wählte als Wohnort eine Bucht, in der Dampf aus Erdspalten drang, heißes Wasser aus der Tiefe quoll und er sich jederzeit eine warme Mahlzeit zubereiten konnte. Heute, 1149 Jahre später, ist das immer noch so. Reykjavik, übersetzt "die rauchende Bucht", dampft wie eh und je aus allen Ritzen. Mit dem kleinen Unterschied, dass die natürliche Energie umweltbewusst dazu benutzt wird, Wohnungen, Wege und Plätze zu heizen. Ein weitverzweigtes Netz aus Warmwasserröhren liegt unter der Stadt, und lässt im Winter den Schnee auf den Straßen wie von Zauberhand schmelzen.
Bunte Farben gegen Tristesse
Auch was das Nachtleben anbelangt, ist Reykjavik ein heißes Pflaster. Wer Spaß daran hat, mit Einheimischen "um die Häuser" zu ziehen, ist hier richtig. Die Isländer sind neugierig, tolerant und weltoffen. Man findet schnell Anschluss, da auch die Sprache kein Hindernis ist. Englisch, Dänisch, Schwedisch gehören zum Alltag. Und Deutsch? Viele Isländer haben bei uns studiert oder gearbeitet.
Auf der Laugavegur, der Shopping-Meile im Zentrum, liegen Bar an Bar, Kneipe an Kneipe. Man trinkt gemütlich sein Bierchen, ein Glas Wein oder einen Cocktail, hört Live-Musik und zieht weiter. Schaufenster-Gucken ist ein Touristenspaß. Die Auslagen vieler Boutiquen sind schön, aber skandinavisch kühl. Ob Kunstgewerbe, Möbel, Kleidung oder Schmuck, das isländische Design ist geprägt durch Kreativität und Witz. Alles ist wunderbar. Doch leider sind die Läden mehr etwas fürs Auge denn für den gewöhnlichen Geldbeutel.
Viele bunte Häuser stehen in der schmalen Straße Laugavegur. Die fröhlichen Farben sind Medizin gegen die wetterbedingte Melancholie. Im Winter wird es in der Stadt tagsüber kaum richtig hell. Und im Sommer? Da ist das Wetter grau und kühl. So bringt wenigstens Farbe Farbe ins Revier.
Kosmische Liebeserklärung
Obwohl die Stadt voller Menschen ist, besitzt das Zentrum Reykjaviks noch den Charme einer Kleinstadt. Es gibt viele enge, verwinkelte Gassen, gepflegte Vorgärten und anmutige Häuschen, die ein Gefühl der Wärme vermitteln. Galten früher die kleinen Holzhäuser mit den Wellblechdächern als Arme-Leute-Bleibe, so kosten sie heute ein Vermögen. Der Tourismus hat Reykjavik verändert.
Sommers wie winters dehnt sich die Stadt im Spagat zwischen touristischen Bedürfnissen und den Belangen der Bürger. Die fühlen sich zunehmend fremd in ihrer eigenen Stadt. Ein Hotel nach dem anderen schießt aus dem Boden. Alteingesessene Geschäfte verschwinden oder werden Souvenirläden. Überall wird gehämmert, gebohrt und gestrichen. Rund 1,4 Millionen Besucher musste Reykjavik 2018 verkraften. Bürgermeister Dagar B. Eggertson sieht die Stadt am Limit. Und freut sich trotzdem über jeden, der kommt.
Besonders gern reisen Asiaten nach Reykjavik. Sie sind auf der Suche nach dem Nordlicht, der Aurora borealis. Wie man weiß, entstehen diese Lichterscheinungen durch angeregte Stickstoff- und Sauerstoffatome der Hochatmosphäre, die in polaren Gebieten beim Auftreffen beschleunigter geladener Teilchen aus der Erdmagnetosphäre auf die Atmosphäre hervorgerufen werden. Das klingt so einleuchtend wie eine kosmische Liebeserklärung. Und vielleicht ist es sogar eine. Denn seltsamerweise glauben unsere asiatischen Nachbarn, das Kindern, die unter Nordlichtern gezeugt werden, Glückskinder sind. Und da Nordlichter besonders im Winter den Nachthimmel schmücken, reisen Japaner, Chinesen, Thailänder, Vietnamesen, Koreaner besonders gern im Winter nach Reykjavik.
Nur damit wir uns nicht falsch verstehen, natürlich interessieren sie sich tagsüber auch für die anderen Sehenswürdigkeiten der isländischen Hauptstadt. Für die 76 m hohe Hallgrimskirkja, für die Blaue Lagune, das Konzerthaus Harpa, den Tjörnin-See, für das Parlamentsgebäude oder die Skulptur Sun Voyager …
Text und Fotos sind von Bernd Siegmund