Stornoway ist die "Hauptstadt" der Äußeren Hebriden. Dieser nördliche Archipel besteht aus rund 500 Inseln. Dreißig von ihnen sind bewohnt. Wie ein 210 km langer Wellenbrecher liegt die Inselkette sturmumtost vor der Westküste Schottlands, und bietet dem Atlantik die Stirn. Die Insel Lewis und Harris ist mit 20.000 Einwohnern und 100.000 Schafen die am dichtesten besiedelte Landmasse in der atlantischen Abgeschiedenheit. Als der schottische Schriftsteller James Boswell 1764 den Philosophen Voltaire traf, erzählte er ihm von seiner Absicht, diese karge, unwirtliche Inselwelt zu besuchen. "Voltaire sah mich an, als ob ich davon gesprochen hätte, zum Nordpol aufzubrechen. Dann sagte er: ‚Sie bestehen nicht auf meiner Begleitung?‘ - ‚Nein, Sir.‘ - ‚Dann habe ich nichts dagegen, dass Sie reisen.‘"
Stornoway auf Lewis, im 17. Jh. gegründet, ist heute die größte Stadt der Hebriden. Und eine quicklebendige dazu. Über 6.000 Menschen leben in ihr. Es gibt Supermärkte, Tankstellen, Kirchen, höhere Schulen, einen großen Fischereihafen und einen Golfplatz. Mit ihren bunten Häusern, den vielen Geschäften und Pubs ist die kleine große Stadt ein regelrechter Magnet. Hierher kommen sonnabends die jungen Leute vom Lande, fein gemacht und mit der festen Absicht, sich kräftig zu amüsieren. Bewohner anderer Inseln schätzen Stornoway als ideales Einkaufsparadies, die Restaurants und Pubs sind am Wochenende brechend voll. Zumindest am Sonnabend. Da herrscht in der Stadt das berühmte Saturday Night Fever. Bis Mitternacht. Danach wird es still auf den Outer Hebrides. Denn der heilige Sonntag beginnt. Und mit ihm die Ruhe. Kein Pub hat geöffnet, kein Restaurant, kein Geschäft, keine Tankstelle. Auch die Fähren haben ihren Betrieb eingestellt. Vor Jahren noch wurden selbst die Schaukeln auf den Kinderspielplätzen angekettet. Die presbyterianische Free Church of Scotland verbietet ihren Mitgliedern jegliche Tätigkeit. Außer der, in die Kirche zu gehen. Und das tun die meisten Hebridians. Sie sind ein sehr gläubiges Völkchen.
Lewis und Harris ist die Insel mit den zwei Namen. Eine unüberwindbare, schroffe Bergkette, deren höchste Erhebung der 799 m hohe Clisham ist, trennt das Eiland in zwei Hälften. An dieser mächtigen Tatsache scheiterte jahrhundertelang die Überquerung. Jeder, der von Lewis nach Harris wollte, oder von Harris nach Lewis, musste hinaus aufs Meer, um von dort den isolierten Inselteil anzusteuern. Inzwischen hat eine Straße das Problem gelöst, aber noch immer spricht man von der Insel Lewis und der Insel Harris. Und das wird wohl ewig so bleiben.
Lewis ist das genaue Gegenteil von Harris. Eine weite Landschaft, flach, torfig, gesprenkelt von zahllosen Lochs, immerfeuchten Wiesen und dem erdigen Braun der Moore. Ab und an nur schmiegen sich Steinhäuser in die Wiesen, die Straßen, die an ihnen vorüberziehen, sind schmal und leer. Sie haben alle 150 m eine Ausweichbucht für den Gegenverkehr. Die Verkehrsschilder verkünden ihre Botschaft in Englisch und Gälisch. Die Insel gilt als letzte Bastion, in der noch Gälisch gesprochen wird. Die (fast) ausgestorbene Sprache ist sogar Pflichtfach an den Schulen. Die berühmteste Sehenswürdigkeit von Lewis liegt 33 m über dem Meer, es sind die Standing Stones of Callanish. Ein mystischer Ort. Eine rund 4.000 Jahre alte Kultstätte für den Sonnenglauben aus 48 Steinen. Rätselhaft und einsam. Die Größe und Vollständigkeit der jungsteinzeitlichen Anlage fasziniert bis heute Wissenschaftler und Laien. "Schweigsame Männer" nennen die Einheimischen die geheimnisvollen Megalithreihen.
Harris dagegen ist eine wilde Felsenwelt aus tiefeingeschnittenen Fjorden, schroffen Bergen und steil aufragenden Felsriffen. Diese Inselhälfte ist untrennbar verbunden mit dem Begriff Harris-Tweed, dem klassischen Tuch der britischen Oberschicht. Jeder Meter ist nummeriert und kann bis zum Namen des Webers zurückverfolgt werden. Der Harris Tweed Act aus dem Jahre 1993 definiert das Tuch wie folgt: "Harris-Tweed ist ein Stoff aus reiner Schurwolle, die auf den Äußeren Hebriden gefärbt und gesponnen wurde und von Hand durch Einwohner der Inseln Lewis, Harris, Uist und Barra in deren Wohnhäusern gewebt wurde." Ein Etikett mit dem Orb, dem Reichsapfel, garantiert die Echtheit des Produkts.
Im Tweedladen von Tarbert, dem verschlafenen Fährhafen auf Harris, findet man alles, was das Herz begehrt. Herren-Sakkos, Knickebocker, Hosen, Miniröcke, Hundemäntel, Kappen im Stil von Sherlock Holmes, Schottenmützen, frivole Korsetts. "Guten Tag, Sir! Welches Muster steht Ihnen am besten? Hahnentritt? Fischgrät? Glencheck? Ich hatte mal einen Kunden, einen Fischgrät-Liebhaber, der bemerkte erst am Ende seines Lebens, sozusagen auf dem Totenbett, dass er …" - Ja, ja, Tweed besteht aus Geschichte und Geschichten. Singen wir deshalb zum Schluss ein Hohelied auf die "black sheeps", die weißen Schafe mit den schwarzen Köpfen. Jahr für Jahr trotzen sie Wind und Wetter. Haben Tag und Nacht nichts Besseres zu tun, als sich ein dickes Fell anzufressen. Und doch wird diese gute Tat in der öffentlichen Wahrnehmung häufig vergessen. Von uns nicht! Wir lassen die guten Tiere nicht ungeschoren davonkommen, rufen ihnen ein dickes Dankeschön zu.
Text und Fotos von Bernd Siegmund