Da ist es wieder, dieses sonderbare Gefühl. So, als würde uns jemand beobachten. Obwohl weit und breit kein Mensch zu sehen ist. Wir stehen auf dem Marktplatz von Civita, einem kleinen Gebirgsdorf im Pollina-Nationalpark. Das Nachmittagsschläfchen hat alles Leben in die Häuser getrieben, für ein, zwei Stunden gehört das Dorf uns allein.
Anthropomorphische Häuser und albanische Dörfer
Charaktervolle, alte Häuser umrahmen den Marktplatz, seltsam und schön. Als wir sie näher betrachten, stellt sich ein altes Hausgesicht selbstbewusst in Positur. Es ist grau, hat eine große Steinnase, Augen und Ohren. Ein wenig mürrisch guckt es in die Welt. Anders als die anderen verfolgt es uns mit neugierigen Blicken. Befragt, ob dieses "ehrenwerte Haus" etwas Besonderes sei, meint unser Begleiter mit größter Selbstverständlichkeit: "Nein, das ist nur ein anthropomorphes, ein sprechendes Haus! Sieben Häuser dieser Art haben wir noch in Civita."
Donnerwetter! Da muss man erst nach Kalafrika reisen (so nennen viele Kalabrier spaßhaft ihre Region wegen der Nähe zu Afrika), um mit dem Begriff anthropomorph konfrontiert zu werden. Das Fremdwörterbuch übersetzt es mit menschenähnlich. Beruhigend zu wissen, dass anthropomorphe Häuser höchst selten in deutschen Texten vorkommen. Wissenschaftler, die penibel den Benutzungsgrad von Wörtern registrieren, tüten diese in folgende Kategorien ein: sehr häufig, häufig, regelmäßig, selten, sehr selten. Und anthropomorph gehört zu den sehr seltenen Exemplaren! Übrigens werden die sprechenden Häuser seit einiger Zeit auch Kodra-Häuser genannt, da sie in Aussehen, Form und Charakter an die Gemälde erinnern, mit denen der albanische Maler Ibrahim Kodra (1918 - 2006) Weltruhm erlangte.
Der Pollina-Nationalpark, der eine Fläche von gut 200.000 ha umschließt, ist von besonderer Schönheit. Eine endlose Kette von Bergen umspielt ihn, seine gigantischen Kalkgipfel kratzen am Himmelszelt. Bei gutem Wetter kann man von hier oben auf der einen Seite das Ionische Meer sehen, auf der anderen den 763 m hohen Appennino Calabrese. Die seit 1993 zum Nationalpark erklärte Landschaft ist wild, ungezähmt und in vielen Bereichen unerforscht. Mitten durch den Nationalpark verläuft die Grenze zwischen der Basilikata und Kalabrien. Viele Bergdörfer, die sich hier seit alters niedergelassen haben, besitzen albanische Wurzeln. So auch Civita.
Das Dorf ist eine von 32 albanischen Siedlungen in Kalabrien. Es wurde 1471 gegründet. Die Neuankömmlinge, die vor den Osmanen geflüchtet waren, bekamen vom italienischen Adel sumpfige Täler und karge Bergzonen als Wohnsitz zugewiesen. In der Abgeschiedenheit stand man füreinander ein, die kalabrischen Albaner wurden eine verschworene Gemeinschaft. Und sie sind es noch heute. Eine besondere Rolle im Bewusstsein der Albaner spielte Georg Kastriota, genannt Skanderbeg. Der Fürst aus dem Adelsgeschlecht der Kastrioti diente von 1423 bis 1443 dem Osmanischen Reich. Dann wechselte er die Seiten, bekannte sich zum Christentum und kämpfte ein Vierteljahrhundert lang gegen die Osmanen. Von 1443 bis 1447 diente er der Republik Venedig, ab 1451 dem Königreich Neapel. Vom albanschen Volk wird Skanderbeg bis heute als Nationalheld verehrt. Auch in Civita zeigt ein Mauerbild und eine Büste den tapfer gegen die Türken kämpfenden Skanderbeg.
Die Teufelsbrücke über den Raganello
Civita ist ganz gewiss eines der schönsten Dörfer Kalabriens. Das hat auch etwas damit zu tun, dass sich das Dorf an einem Ort niedergelassen hat, an dem der Pollina-Nationalpark besonders rau, besonders schön und besonders wild ist. Gewaltige, mehrere hundert Meter hohe Felswände bilden die Bühne für das Spektakel, das der Raganello Tag für Tag seinen Besuchern bietet. Ständig verändert der Fluss seinen Lauf, stürzt sich todesmutig in die Tiefe, um kurz darauf ins Erdinnere zu verschwinden. Erst bei Sankt Lorenzo Bellizzi, dort, wo das Tal sich licht und weitläufig zeigt, fließt er wie der strahlende Sieger ans Tageslicht zurück. Den Höhepunkt des Naturtheaters leistet sich der Raganello unterhalb des Bergdorfes Civita, in der Teufelsschlucht tobt er sich gehörig aus. Hier ist der Felsspalt an seiner engsten Stelle nur einige Meter breit. Die Wände sind zwischen 400 und 700 Meter hoch. Über die tosenden Wassermassen spannt sich in einem genialen Bogen die elegante Teufelsbrücke. Kein Mensch riskiert ohne Nervenflattern einen Blick von der Brücke herab in die kochende Tiefe. Die Teufelsbrücke ist ein kühnes Bauwerk. Unterlagen, die erst kürzlich gefunden wurden, belegen, dass sie um 1840 erbaut wurde. Noch heute bewundern die Menschen den Mut und die Kunst der Ingenieure. Aber da sich vor fast 200 Jahren niemand so recht vorstellen konnte, dass die Brücke von Menschenhand gebaut worden war, schrieb man sie dem Teufel zu.
Und vielleicht hatte der ja wirklich seine Hand im Spiel, als im August 2018 eine Katastrophe die Region heimsuchte. Wie der "Corriere della Sera" berichtete, hatte starker Regen den Fluss anschwellen lassen. Als die natürlichen Dämme aus Steinen und Geröll brachen, stürzten die Wassermassen ins Tal und rissen Erdreich, Pflanzen und Menschen mit. Über zehn Tote waren zu beklagen. "Es war ein regelrechter Tsunami", sagte Giacomo Zanfei von der italienischen Bergrettung. Mittlerweile ist die Brücke, die es auch weggerissen hatte, wieder in Lohn und Brot. Und obwohl alle genau wissen, dass es Menschen waren, die sie wiedererrichtet haben, heißt sie weiterhin Teufelsbrücke.
Wohlfühl-Urlaub im "Club Calabria"
Nach einem so interessanten Tag in der Bergwelt des Pollina-Nationalparks freut man sich auf ein gemütliches Zuhause am Ionischen Meer. Der Aldiana "Club Calabria" ist, obwohl schon 2019 eröffnet, noch immer jungfräulich. Und bestens geeignet für alle, die Sonne und Meer lieben. Schließlich ist Kalafrika eine der sonnigsten Regionen Italiens. Natürlich gibt es mehrere Restaurants, ärztliche Versorgung, Wellness, italienische und internationale Küche, Kinderbetreuung nach Altersklassen, eine große Poolanlage mit Poolbar, Theater und Nightclub, kostenloses WLAN und und und … Doch genauso wichtig wie das genannte ist die Tatsache, dass alle Mitarbeiter in einer Kunst ausgebildet sind, die vom Aussterben bedroht ist, der Kunst Gedanken zu lesen. Nämlich die des Gastes.
Text und Fotos von Bernd Siegmund