Auf der Ranking-Liste rangieren hinter dem unangefochtenen Spitzenplatz von Berlin dann München und Hamburg und sogar die zwei sächsischen Städte Dresden und Leipzig schafften es in den erlesenen Kreis der Vielbesuchten. Doch Sachsen hat noch eine weitere Metropole aufzubieten, die einen Besuch lohnt: Chemnitz - das sächsische Manchester mit einem deutschlandweit wenig bekannten unermesslich reichen Kultur- und Kunstangebot.
Arbeiterstadt mit Erfindergeist
Die Industrie- und Arbeiterstadt Chemnitz liegt am Nordrand des Erzgebirges und bildet mit den Großstädten Dresden und Leipzig ein Städtedreieck. In Dresden wurde gefeiert, in Leipzig Handel betrieben und in Chemnitz kreativ entwickelt und fabriziert, die Arbeiterstadt mit Erfindergeist. So lautet die historische Einordnung, die von den Stadtführern und den Chemnitzern mit einem Augenzwinkern zu hören ist. Und da klingt auch Stolz auf die historische Entwicklung der Stadt mit. Der Nukleus war ein 1136 gegründetes Benediktiner Kloster, das einen Fernhandelsmarkt in der Chemnitz-Aue errichtete, dem heutigen Marktplatz. Noch einmal 200 Jahre später erhielt die Stadt das "Bleich"-Privileg verliehen, die Leineweberei war der Beginn der Textilindustrie. Später folgte die mechanische Spinnerei, die industrielle Revolution wurde eingeleitet, um 1900 arbeiteten in der Stadt 20 Gießereien, technische Hochschulen und Unis forcierten den Maschinenbau. Die Stadt Chemnitz gehörte zu den reichsten Städten in Deutschland. Auf diesem Humus ihrer Industrie erwuchs ein Reichtum an Architektur und Kunstsammlungen.
Gunzenhauser Museum im Bauhaus-Stil
Obwohl Chemnitz im Schatten der zwei anderen sächsischen Metropolen steht und in ganz Deutschland über sein aktives kulturelles Leben nur wenig bekannt ist, gewann sie als Kulturstadt in einem spektakulären Wettbewerb mit anderen deutschen Städten überraschend den Zuschlag. Der Münchner Galerist Dr. Alfred Gunzenhauser, der insgesamt 2.500 Werke von 270 Künstlerinnen und Künstlern aus dem 20. Jahrhundert gesammelt hatte, darunter viele Werke von Otto Dix, suchte dafür einen Ausstellungsort. Schließlich entschied er sich im Jahr 2003 für Chemnitz. Hier richteten die rührigen Kulturmanager der Stadt für seine Sammlung ein Gebäude im Bauhaus-Stil ein, das seinen Namen trug. Das bereits 1930 fertig gestellte Bürogebäude errichtet aus Naturstein, früher Sparkassen-Hauptsitz, wurde umgebaut und bietet nun in vier Etagen großzügig gestaltete Ausstellungsräume an. "Diese Entscheidung von Alfred Gunzenhauser war maßgeblich davon bestimmt, dass unsere Stadt eine große Tradition an Kunstsammlungen aufzuweisen hat", erläutert die heutige Kuratorin des Gunzenhauser Museums, die gebürtige Chemnitzerin Anja Richter. "Der Kern der Dauerausstellung besteht aus Werken von Otto Dix und von Expressionisten wie Alexej Jawlensky, Ernst Ludwig Kirchner und anderen "Brücke-Künstlern". Diese realistische Kunst der "Neuen Sachlichkeit" passe ausgezeichnet in den Bauhaus-Stil des Museumsgebäude. Außerdem sind jährlich wechselnde Sonderausstellungen zu sehen und Kuratorin Richter hat sich der Förderung junger Künstler verschrieben. Eine Attraktion für Touristen.
Expressionisten am Theaterplatz
Auf dem Theaterplatz in Chemnitz mit dem imposanten Opernhaus ist 1909 das Gebäude der Kunstsammlungen im zurückhaltenden Jugendstil errichtet worden. Hier erwartet den Besucher eine Vielfalt an Malerei des 18. und 19. Jahrhunderts angefangen von Caspar David Friedrich, Carl Gustaf Carus, Edvard Munch bis zu Georg Baselitz. Einen Schwerpunkt bilden die Arbeiten der Expressionisten wie Karl-Schmidt-Rotluff. "Mein Geheim-Tipp in unserer Ausstellung ist der Künstler Carl Gustaf Carus, der zurückgezogen im Erzgebirge lebte", so Kuratorin Brigitta Milde. Der Nachlass umfasst 1.500 Werke und 22.000 Briefe. Schließlich gehören außerdem zu den Kunstsammlungen Chemnitz, so Kuratorin Milde, noch das Schlossberg-Museum und die von Henry van de Felde entworfene Jugendstil-Villa Esche.
Das Chemnitzer Modell auf einer Schiene
In einer Industriestadt wie Chemnitz ist es nicht überraschend, wenn der Besucher auf technisch clevere und innovative Lösungen stößt, z. B. an dem 1873 errichteten Hauptgebäude des Bahnhofs der Stadt. Der Beobachter stellt erstaunt fest, dass auch die Straßenbahnen in die Bahnsteighalle des Bahnhofs einfahren. Da das Chemnitzer Straßenbahnnetz die gleiche Spurweite wie die Deutsche Bahn hat, können die Gelenkzüge bis nach Stollberg, Mittweida und insgesamt 20 andere Orte des weiteren Umlandes fahren. Weitere Linien und Linienverlängerungen sind geplant. Wie erfinderisch sächsische Arbeiter und Ingenieure waren, erfährt der Besucher in einem Denkmalgeschützen Fabrikgelände, das vor über 100 Jahren für eine moderne Gießerei errichtet wurde. Hier startete nach 1989 ein so genanntes "Nachwende-Identitätsprojekt". Dabei wurden in ABM und ehrenamtlicher Tätigkeit neben historischer Technik auch einige Exponate von den abgewickelten 20 Großbetrieben gesammelt und liebevoll erhalten - so zu sagen in einer "Trauerarbeit", denn etwa 35.000 Beschäftigte wurden im Zeitraum von drei Jahren arbeitslos.
Dampf-Tage im Industriemuseum
Schließlich wurde hier im Jahr 2003 das Industriemuseum Chemnitz eingerichtet. Zu den Glanzlichtern gehört die Einzylinder-Gegendruck-Dampfmaschine aus dem Jahr 1896, die zuverlässig Strom und Druckluft für die Gießerei lieferte. "Für diese Maschine organisieren wir an einigen Terminen im Monat so genannte Dampftage. Das ist für alle Besucher ein ganz großes Erlebnis", erzählt Achim Dresler vom Industriemuseum. In der großen Gießereihalle hat auch eine der legendären Hartmann Dampflokomotiven einen Platz, Textilmaschinen und Roboter in moderner Autoindustrie und nicht zu vergessen die alten DKW, Horch und Wanderer-Fahrzeugmodelle der Autounion. Ein großer Teil von Know how und Auto-Ingenieuren fand nach 1945 mit dem Audi die neue Heimat in Ingolstadt, zurück blieben im Osten Sachsenring und Trabant. Heute produzieren in Sachsen Firmen wie BMW, Carpon, Neoplan, Porsche und VW. Mehr als 25.000 Beschäftigte sind in der Autoindustrie, weitere 60.000 in der Zuliefererindustrie tätig. Seit einigen Jahren haben auch die Tourismus-Verantwortlichen von Chemnitz und in der Landesregierung wieder entdeckt, dass sich die Industriekultur durchaus als ein starker Magnet für Urlauber in Sachsen und speziell in der Ingenieurstadt Chemnitz entpuppt.
Der weltweit größte Philosophen-Kopf
Die Industrie- und Kulturstadt Chemnitz hat viele historische Einschnitte durchmachen müssen. Während der Naziherrschaft in Deutschland wurden 1937 die wertvollen Kunstsammlungen der Expressionisten als entartete Kunst verleumdet und zu großen Teilen zerstört. Als der Eroberungskrieg der Nazis als Bombenkrieg nach Deutschland zurückkehrte, wurde 80 Prozent der Innenstadt von Chemnitz zerstört. Als die DDR in der stark zerstörten Industriehochburg eine sozialistische Musterstadt aufbaute, wurde mit den Neubauten und breiten Straßen noch ein weiterer Teil der historischen Bausubstanz unwiederbringlich geopfert. Chemnitz erhielt 1971 den Namen von Karl Marx und in die Innenstadt wurde eine monumentale Marx-Büste des sowjetischen Bildhauers Lew Kerbel gepflanzt. Der Marx-Kopf ist 40 Tonnen schwer, über sieben Meter hoch plus einem viereinhalb Meter hohen Granitsockel und hat den Spitznamen "Nischel", sächsisch für Kopf, verpasst bekommen. Nach 1989 gab es viele Diskussionen, wie sich die Stadtführerin Veronika Leonhardt erinnert. Da hieß es einschmelzen, verschenken, verleihen, verbuddeln oder vielleicht verhüllen. Tatsächlich führte im Jahr 2008 eine Verhüllungsaktion a la Christo dazu, ergänzt durch ein begehbares Gerüst, dass sich Einwohner wie Touristen in übergroßer Mehrheit für den Erhalt entschieden. Jetzt ist der unverhüllte Kopf der Hauptanziehungspunkt der Stadt und es gibt Marx-Bier, Marx-Schokolade, Marx-Ohrringe und in der Tourist-Information ist der kleine Gips-Abdruck des Marx-Kopfes von Kerbel das meistverkaufte Souvenir. Die Chemnitzer haben sich gegen alle Denkmals-Stürmer durchgesetzt, die die Identitätsgefühle einer Stadt übergehen wollen. Für sich selbst und für die Touristen in ihrer Stadt.
Bewerbung um Kulturhauptstadt Europas
In der Chemnitzer Innenstadt am Rosenhof 6, ganz in der Nähe vom Alten und Neues Rathaus, befindet sich das Kulturhauptstadtbüro. Die Stadt Chemnitz bewirbt sich darum, im Jahr 2025 den Titel Kulturhauptstadt Europas zu erhalten. "Im Mittelpunkt steht die Entwicklung der Stadtgesellschaft und der Stadt an sich", unterstreicht der Leiter des Büros Ferenc Csak. Kultur sei auch der Schlüssel, die Stadt und die Menschen in einen offenen Dialog zu verwickeln und Begegnungen zu schaffen.Und da sei schon vieles in Bewegung gekommen, auch um gesellschaftliche Spaltungen, die überall in Europa und auch in unser Stadt bestehen, ein wenig zu überwinden. Die Ereignisse im August 2018, als ein junger Chemnitzer Familienvater von Migranten getötet wurde und daraufhin Trauermärsche und politische Demonstrationen zu Konfrontationen führten, haben besonders durch die undifferenzierte Berichterstattung in den Medien das Image der Stadt beschädigt. (Während beispielsweise Gewalt und Krawalle zum G20-Gipfel in Hamburg mit vielen Verletzten und der Verwüstung eines Stadtviertels scheinbar keinen Imageschaden der Hansestadt zur Folge hatte, ist es in Chemnitz anders. Hier trafen die Ereignisse auf ein "nicht ausgeprägtes Image" der Stadt)
"Die Bewerbung um die Kulturhauptstadt Europas kann mit Sicherheit nicht das Image-Problem von Chemnitz lösen", so Csak, "aber wird zur Kommunikation beitragen und Anstöße geben. Die Stadt hat viele Geschichten zu erzählen und der Weg zum Titel einer Kulturhauptstadt mit neuen kleinen und großen Projekten ist das Ziel." In einer ersten Etappe werden im Dezember von den insgesamt acht deutschen Bewerbern nach Jury-Entscheid noch die Hälfte im Wettbewerb bleiben. Chemnitz hat gute Chancen, erfolgreich den Weg zur europäischen Kulturhauptstadt zu gehen, wenn es wie beim Streit um den Nischel seine Identität und sein Selbstverständnis verteidigt und bewahrt.
Text und Fotos von Ronald Keusch mit 2 Fotos von Bertram Kober