Ein Schmuckstück aus dem Mittelalter

Vilnius zählt zu den Favoriten im Städte-Tourismus in Europa.
Foto von Ronald Keusch
Foto von Ronald Keusch

Sie ist zweifellos ein wenig bekanntes Schmuckstück Europas und von Touristen noch weitgehend unentdeckt - die Hauptstadt Litauens, Vilnius. Wenn der Kontinent Europa für reiche kulturelle Traditionen und beeindruckende Sehenswürdigkeiten steht, für gotische Kathedralen, Barock-Schlösser, klassizistische Herrenhäuser bis zu herrlichen Parks, dann ist das alles in Vilnius zu finden. Und wenn Europa für sich in Anspruch nimmt, Werte wie stolzes Selbstbewusstsein, Freiheitsliebe, Streben nach Unabhängigkeit und Toleranz gepachtet zu haben, hier in Vilnius ist all dieses schon bei einem kurzen Besuch zu spüren. Und es ist kein Zufall, dass französische Wissenschaftler den geographischen Mittelpunkt Europas etwa 30 Kilometer nördlich von Vilnius vermessen haben. Darauf sind viele Litauer stolz und die EU-Bürokraten in Brüssel sollten sich außerdem ab und zu daran erinnern, dass sich östlich dieses Mittelpunktes von dem Kontinent auch noch eine Menge Europa befindet.

Straßennamen erzählen Geschichte

Die Stadt Vilnius mit ihren 700.000 Einwohnern bietet eine gelungene Melange zwischen Tradition und Moderne. Für den Touristen ist dies an der Hochhaus-Silhouette in der Neustadt und der seit langem von der UNESCO zum Weltkulturerbe geadelten Altstadt festzumachen. Die Stadt Vilnius kann sich dank nur geringer Kriegs-Zerstörungen so präsentieren, wie sie im Original im Mittelalter vor 500 Jahren existierte. Die vielen kleinen Gassen, gesäumt von Cafes und Restaurants, Boutiquen, Hotels, Souvenirläden, Bars und Kiosken, führen durch das Häusergewirr zu kleinen Plätzen oder dem großen Rathausplatz, wo Biergärten auf die Bummelnden warten.


Unser Guide Kristupas Sepkus

Unser Guide Kristupas Sepkus hat für die Besucher von Vilnius einen kleinen historischen Rundgang parat, den er am Beispiel der wechselnden Namensgebungen des heutigen Gediminas-Prospekts zeigt, dem Pracht-Boulevard der Stadt. Er hieß bis 1915 zu Zeiten des Zaren-Russlands Heilige Georg-Straße, danach Kaiserstraße - nach dem Deutschen Kaiser Wilhelm II, ab 1922 für 20 Jahre in polnischer Republik Adam-Mickiewicz-Straße, ab 1939 ein kurzes Intermezzo Gediminas-Straße, ab 1940 unter Stalins Herrschaft Stalinstraße, nach 1941 und der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht Adolf-Hitler-Straße, ab 1945 in der Sowjetunion wieder Stalinstraße und ab 1960 Leninstraße. Und schließlich wurde sie im Jahr der Unabhängigkeit von Litauen 1991 wieder die Gediminas-Straße. Und Kristupas ergänzt, dass seit einhundert Jahren immer wieder neue Namen ausgegeben wurden mit der Zusicherung: Das ist für die Ewigkeit. Doch nur der Beruf des Malers von Straßenschildern scheint krisenfest zu sein.

Umstrittenes Gediminas Denkmal


Vilnius


St. Peter und Paul Kirche


St. Peter und Paul Kirche

Der Gediminas Propekt beginnt unterhalb des Burgberges am Kathedralenplatz. Er wird dominiert von der wuchtigen Kathedrale St. Stanislaus und St. Ladislaus im klassizistischen Stil und dem freistehenden Glockenturm. Neben der Kathedrale steht ein eher unscheinbares Denkmal, gewidmet dem legendären Großfürsten Gediminas, der als Gründer von Vilnius gilt und einer der berühmtesten Herrscher Litauens ist. In einem seiner Briefe erwähnt er im Jahr 1323 den Namen Vilnius das erste Mal, daher gilt 1323 auch als Gründungsjahr von Vilnius. Das Denkmal aus dem Jahr 1996, geschaffen von zwei amerikanischen Künstlern litauischer Herkunft Vytautas Kašuba und Mindaugas Šnipas, wird von vielen in Vilnius nicht gemocht. Gediminas steht neben seinem Pferd, hält sein Schwert in der linken Hand und bedeutet mit der rechten den Platz, wo die Stadt Vilnius entstehen soll, was man auch als Unterwerfungsgeste missverstehen kann. Guide Kristupas meint dazu lakonisch: "Viele hätte ihn lieber hoch zu Ross mit gezücktem Schwert in Siegerpose gesehen."

Vilnius - das Rom des Nordens

Oft wird mitunter vorschnell für Städte das Prädikat "multikulturell und weltoffen" vergeben. Vilnius ist ein wirkliches Beispiel dafür, wie Menschen mit unterschiedlichen Sprachen, Nationalitäten, Ethnien und Religionen zusammenleben können. Ein Beleg dafür ist die Zahl von insgesamt 50 Kirchen von Katholiken und Protestanten, russisch-orthodoxer Christen, Juden und anderer religiöser Gemeinschaften wie auch mit dem Islam eingewanderte Tataren, die hier seit Jahrhunderten nebeneinander friedlich existierten. Obwohl wie so oft die Vergleiche hinken, ist von manchen Reisejournalisten die Bezeichnung von Vilnius als "Rom des Nordens" nicht so abwegig. Und auch die in Reiseberichten vielfach kolportierte Beobachtung, dass der Besucher der Stadt von fast jeder Stelle aus mindestens drei Kreuze sehen kann, ist zumeist zutreffend. Immer zutreffend und unstrittig sind die Fortschritte bei der Digitalisierung. In Vilnius ist WLAN praktisch überall vorhanden, ein Anziehungspunkt für junge Start-up-Unternehmen aus vielen Ländern. Übrigens sollen z. B. Dokumente wie ein Reisepass innerhalb einer Woche online zu beantragen und zu erhalten sein. Hallo, Berliner Senat, ab zur IT-Schulung nach Litauen.

Backsteingotik und Barockbauten


Der Kathedralenplatz

Auch all diejenigen Besucher, deren Vorliebe nicht unbedingt in Besichtigungen von Gotteshäusern liegt, werden hier auf ihre Kosten kommen, beispielsweise in der St.-Peter-und-Paul-Kirche aus der Barockzeit. Sie liegt am Rande der Altstadt und ist auch bequem mit einer der vielen Linien der elektrischen Oberleitungs-Busse zu erreichen, Ticketpreis ein Euro. Sie gilt mit ihren 2.000 (!) Stuckfiguren als ein architektonisches Meisterwerk. Hier ist die Handschrift von italienischen Bildhauern allerorten im Kirchenschiff zu entdecken. Es tummeln sich biblische Heilige wie auch mythische und allegorische Figuren, die von den Künstlern lebensfroh und heiter gestaltet wurden.


Der Kathedralenplatz mit dem freistehenden Glockenturm

Recht zentral im Bereich der Innenstadt befindet sich das wohl berühmteste Bauwerk-Ensemble von Vilnius, die St. Annenkirche und die St. Franziskus-Kirche, die von den Touristikern gern mit der Sagrada Familia in Barcelona verglichen wird. Während an dem spanischen Kirchenensemble noch lange weiter zu bauen ist, sind die Prachtbauten in Vilnius um 1500 fertiggestellt worden. Neben den beiden gotischen Kirchen gehört zu diesem einzigartigen Komplex auch noch das Bernardine-Kloster. Auch hier kennt Guide Kristupas eine viel erzählte und beschriebene Legende. Danach soll ein altgedienter Baumeister seinen jüngeren Kollegen, der die unvergleichliche und schönere Annenkirche geschaffen hat, aus Neid vom Kirchturm in die Tiefe gestürzt haben. Wettbewerb im Mittelalter. Auf dem Platz vor den beiden Kirchen steht ein Denkmal des polnisch-litauischen Schriftstellers Adam Mickiewicz. Hier trafen sich ab 1987 die ersten Oppositionellen, die für die Unabhängigkeit Litauens von der Sowjetunion eintraten.

An der Bar im Gefängnishof


St. Annen und St. Franziskus-Kirche mit dem Mickiewicz-Denkmal

Die selbstbewusste Stadt Vilnius hat einige originelle Wege gefunden, um ihre wechselhafte spannende Geschichte zu präsentieren und gleichzeitig der Vielfalt der Kultur eine Heimat zu geben. Ein besonders spektakuläres Projekt ist das Lukiskes Gefängnis. Der alte Gebäudekomplex noch aus der russischen Zarenzeit hatte 150 Jahre auf dem Buckel und sollte abgerissen werden. Vor drei Jahren entschieden die Stadtväter, den Gefängnisbau in ein Kulturzentrum mit angeschlossenem Museum umzuwandeln. Nun gibt es schon in einigen Ländern wie Dänemark das Angebot vor allem für Touristen, freiwillig als Abenteuer in einer Gefängniszelle zu übernachten. Aber kann man in einem solchen unmenschlichen Ort ein solches Zentrum schaffen? Die Stadt Vilnius hat sich dafür entschieden. Und wenn der Besucher durch das Tor mit Stacheldraht auf den Mauern in den sehr großen Innenhof gelangt, sieht er rechts eine Bar mit Barhockern, Stühlen und Tischen und links eine Bühne mit vielen Sitzplätzen. Von der Gebäudefassade schauen die vergitterten Fenster der Zellen in den Hof.

Atelier im Knast


Gefängnishof mit Konzerten

Etwa 300 Künstler haben hier ihre Ateliers und Musikstudios eingerichtet. Wir dürfen für einen kurzen Augenblick in die Werkstatt von Jolita Vaitkute hineinschauen. Sie ist eine vielseitige Künstlerin von food art bis zu Porträts. Ihr neuestes Kunstwerk steht mitten im Atelier. Eine riesige Pistole, die rundherum behaart ist. Der Titel könnte lauten: die Waffen der Frauen.

Rundgang durch Gefängniszellen


Jolita mit behaartem Revolver

Für die Besucher werden auch Rundgänge mit einer Führung durch die Gefängnistrakte angeboten. Sie beginnen in einem kleinen Saal, der früher einmal als russisch-orthodoxe Kirche für die Gefängnisinsassen diente und heute mit einer Fläche von 1.800 Quadratmetern einer von vielen Ausstellungsräumen ist. Ein Verhörzimmer für politische Häftlinge ist ein bedrückender Anblick. Auch die einzelnen Gefängniszellen werden künstlerisch unterschiedlich genutzt. In eine Zelle hat ein Künstler eine lebensgroße Pappfigur von Putin gestellt. Diese Idee aufgreifend fallen dem gut informierten Zeitgenossen auf der Stelle noch weitere Kandidaten für diese Zelle ein, aus Europa wie auch aus Übersee.

Museum glorreicher Vergangenheit


Tor zum Gefängnistrakt Lukiskes


Das Litauische Nationalmuseum


Die Schlacht bei Grunwald 1410

An sehr prominenter Stelle der Stadt zu Füßen des Burgberges befindet sich das Litauische Nationalmuseum. Derzeit von Bauzäumen umrahmt, thront vor dem Gebäude der litauische Großfürst Mindaugas, der erste große Herrscher des Landes. Das im 13. Jahrhundert gegründete Großherzogtum Litauen war ein multiethnischer und multikonfessioneller europäischer Staat, der im 15. Jahrhundert unter anderem mit Weißrussland und Teilen von Russland und Polen seine größte Ausdehnung hatte. Auch die Geschichte des Museums selbst, gegründet Mitte des 19. Jahrhunderts, spiegelt die Geschichte des Kampfes von Litauen um seine nationale Identität und Unabhängigkeit wider. Erst nach der Unabhängigkeit erhielt es im Jahr 1992 seinen heutigen Namen. Im Museum über die glorreiche Vergangenheit spielt auch die gewonnene Schlacht der Litauer und Polen gegen den Deutschen Ritterorden im Grunwald 1410 eine wichtige Rolle. Unzählige interessante historische Daten, Einzelheiten wie Zusammenhänge warten auf den Besucher, von kultureller und religiöser Diversität im 13. bis 18. Jahrhundert, den jüdischen Communities oder der Politik der Russifizierung. Für Touristen aus Europa und besonders aus Deutschland ist diese Ausstellung zu empfehlen, weil viele historische Fakten helfen können, die heutige Politik von Litauen und seiner Nachbarn einzuordnen und besser zu verstehen.

Agentur "Go Vilnius" fördert Tourismus


Direktorin Inga Romanovskienè

Wer kann besser Auskunft geben über die jetzige Situation im Tourismus als eine extra vor sechs Jahren in der Stadt geschaffene Agentur mit dem Namen "Go Vilnius". "Go Vilnius" beschäftigt sich dabei nicht nur mit Tourismus und Reisen, sondern kümmert sich auch um die Business-Entwicklung der Stadt. Sie betreibt das "Internationale Haus" und bietet Unterstützung für Personen und Firmen, die sich in Vilnius niederlassen, zum Beispiel bei Unternehmensgründungen, bei Versicherungs- und Steuerfragen.


Die deutsche Gasse in Vilnius


Das Rathaus


Fresken im philologischen Institut der Universität


Lebensbaum im philologischen Institut


Literatur-Gasse mit Günter Grass

Die Direktorin von "Go Vilnius" Inga Romanovskienè bereitet sich mit ihrem 50-köpfigen Team schon jetzt auf das große Stadt-Jubiläum im nächsten Jahr vor: Vilnius wird 700 Jahre alt. Das wird mit mehreren Festivals, kulturellen Veranstaltungen und Konzerten gebührend gefeiert und es werden auch viele Besucher in der Stadt erwartet. Auf die Frage, was denn für deutsche Touristen die größte Überraschung ist, wenn sie Vilnius besuchen, sagt Inga Romanovskienè: "Es ist definitiv die Altstadt, die auch von der UNESCO in die Liste der Weltkulturerbe-Stätten aufgenommen wurde. Sie ist sehr schön, aber auch sehr lebendig, mit vielen Menschen, Cafés, kulturellen Veranstaltungen, gutem Essen, guten Preisen und smarten Leuten, sehr gastfreundlichen Leuten, also mögen es die Deutschen hier definitiv. Wir haben sogar eine deutsche Straße (Vokiečių gatvė) - es ist eine der Hauptstraßen und eine der ältesten Straßen in Vilnius, in der Nähe des Rathauses, mit vielen schönen Gebäuden. Früher wohnten hier Kaufleute aus Hansestädten und die Straße war ein Handelszentrum der Stadt."

Premiere im Vingis-Park


Beim Konzert im Vingis Park


Beim Konzert im Vingis Park

Einen Vorgeschmack auf das große Jubiläum liefert ein Festival im Vingis-Park, der größten Grünfläche der Stadt. Alljährlich findet hier am 25. Juli, dem St. Christophorus-Tag, gewidmet dem Schutzheiligen der Stadt Vilnius, ein riesiges Musikfestival statt. Bei einem vierstündigen Konzert versammelten sich mehrere zehntausend Musikbegeisterte um eine Open-Air-Bühne. Das für die Besucher kostenlose Sommer Festival unter dem Namen "So jung wie Vilnius" bot ein Programm mit klassischer Musik, ein Popkonzert mit internationalen und litauischen Künstlern und elektronische Tanzmusik. Der schottische Sänger und Songwriter Lewis Capaldi gab dabei sein umjubeltes Debüt in den baltischen Ländern. Die Premiere war ein großer Erfolg. Ein gutes Omen für die Feiern zum 700-jährigen Jubiläum der so jungen Stadt Vilnius.

Text und Fotos von Ronald Keusch

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