Durch das Reich der Mitte - Beijing und Große Mauer

Noch vor zehn Jahren warnte der US-amerikanische Reiseschriftsteller Paul Theroux in dem Buch "China fürs Handgepäck" eines Schweizer Verlages in einer launig humoristischen Weise vor Inlandflügen in China.
Foto von Ronald Keusch
Foto von Ronald Keusch

Er beschrieb sein Flugerlebnis in einem klapprigen russischen Jet, dessen Metallhülle so zerknittert und rissig war wie das Silberpapier in einer gebrauchten Zigarettenpackung und schilderte, wie Passagiere große Bündel in der Ablage unterbrachten, die immer herauspurzelten. Und außerdem seien die Sitze so dicht gestellt, dass dem Reiseautor die Knie wehtaten. Der geschilderte Flug fand zwar weit im Norden Chinas von Ürümqi nach Lanzhou statt, aber immerhin erschien das Buch im Jahr 2009. Doch schon vor zehn Jahren saßen die Chinesen mit den im Land reisenden Touristen zuallermeist in Airbussen und Boing 737. Mittlerweile ist mit der Comac C919 der erste chinesische Mittelstreckenflieger in ähnlicher Größe wie ein Airbus A320 oder eine Boeing 737 in Betrieb. Übrigens entpuppte sich die Warnung des Reiseschriftstellers als ein vor 30 Jahren aufgeschriebenes Erlebnis. Es zeigt sich, dass sich in nur zwei Dutzend Jahren vieles in China verändert hat. In China scheinen die Uhren schneller als anderswo zu gehen.

Beijing - Hauptstadt kaiserlicher Kultur

Nur wenige Tage Aufenthalt in Beijing zeigen dem Besucher, dass er sich in der politischen Hauptstadt und zugleich in der Stadt alter Hochkultur Chinas befindet. Dies wird schon im Zentrum der Stadt ganz augenscheinlich. Hier erstreckt sich der berühmte Kaiserpalast, an den sich unmittelbar auf seiner südlichen Seite der Tian`anmen, der Platz des Himmlischen Friedens anschließt. Die Verbotene Stadt - das Symbol kaiserlichen Glanzes - liegt unmittelbar neben einer riesigen Betonfläche mit dem Mao-Mausoleum und dem Haus des Nationalen Volkskongresses, dem Sitz der Legislative Chinas.

Besucher überschwemmen Verbotene Stadt

Die Verbotene Stadt, Anfang des 15 Jahrhunderts vollendet, beherbergte 24 Kaiser mit ihrem Hofstaat sowie Beamte und Würdenträger. Mittlerweile wird sie täglich von Heerscharen von Touristen überschwemmt. Dennoch kann dieser in einer Linie aufgebaute Komplex mit dem elegant geschwungenen Dach der Halle der Höchsten Harmonie, mit seinen verzierten Torbögen und den alles bewachenden chinesischen Löwen seine Pracht bis heute bewahren. Für mich ein kleines Wunder. An allen Bauten stehen auf dem Gelände überdimensionale große Töpfe, insgesamt 308, in denen früher Wasser für die Feuerbekämpfung aufbewahrt wurde. Die unmittelbar am Sitz des Kaisers stehenden 16 Töpfe sind vergoldet. Das Gold wurde vor mehr als hundert Jahren bei Plünderungen durch französische und englische Soldaten abgekratzt. Nun stehen die Gefäße abgeschürft zur Ansicht. Die Besucher können einen "Schaden der westlichen Zivilisation" betrachten.

Betonpiste beliebtes Fotomotiv

Auf dem Platz des Himmlischen Friedens existiert keinerlei Erinnerung an einen anderen Zivilisations-Schaden, die blutigen Ereignisse im Juni 1989. Ein paar Polizisten in Uniform und ein Polizeiauto verlieren sich in tausenden von Touristen auf dem gigantischen Platz. Die Besucher haben scheinbar alle nur eines im Sinn: Fotografieren. Und einige wenige ohne Fotoapparat werden von auf dem Platz stationierten professionellen Fotografen zu Fotos für daheim animiert. Der größte Platz der Welt ist zu einem von klickenden Fotoapparaten und Handys besetzten Fotomotiv geworden.

Hofhaus in der goldenen Seidenstraße

Ein Kontrastprogramm zu kaiserlichem Glanz und Gloria stellt nahe der verbotenen Stadt der Hutong Qianjing dar, eines der alten Viertel Beijings mit den charakteristischen Hofhäusern. Viele Hutongs mussten dem Stadtneubau weichen. Einige wurden restauriert und werden den Touristen präsentiert, die standesgemäß per Rikscha in flottem Tempo durch die schmalen Gassen geradelt werden.

Ich besuche ein 390 Jahre altes Hofhaus in der Goldenen Seidenstraße, in der in früheren Jahrhunderten Manufakturen auch für den Kaiserpalast arbeiteten. Wie alle anderen ist auch dieses Hofhaus mit Mauern umgeben, die vor bösen Geistern schützen sollen. Der Hausherr erzählt von seinem Großvater, der noch für den letzten Kaiser als Tischler gearbeitet hat und von seinem Vater, einem Zimmermann. Er selbst hatte studiert, wurde Buchhalter und ging vor zwei Jahren mit 60 Jahren in Rente, um jetzt im Stundentakt Touristen mit Tee zu empfangen. Ehe die nächste Busladung Touristen kommt, lädt er zum Fototermin in einem Hochzeitszimmer ein. Über dem Sofa, auf dem sich die Paare platzieren, ist groß an die Rückwand ein chinesisches Schriftzeichen gemalt. Es lautet schlicht: Glück.

Zentrum der Welt auf dem Himmelsaltar

Der Himmelstempel in einem Park von 270 Hektar Größe gelegen, gilt als ein Wahrzeichen von Beijing. Hier sind die Touristen nicht nur unter sich. Viele chinesische Rentner sind hier im Grünen unterwegs, spielen Karten oder praktizieren Tai Chi, eine Mischung aus Meditation und Kampfkunst. Für alle chinesischen Kaiser war es ein Regierungsritual, hier in der nur aus Holz gebauten Halle des Gebetes für Gute Ernten ihren Auftritt zu zelebrieren. Im Zentrum der Halle stehen vier gewaltige, die vier Jahreszeiten repräsentierende und mit goldenen Drachen verzierte Säulen. Sie werden umringt von zwölf Säulen, die für die einzelnen Monate stehen. Besonders attraktiv ist der Himmelsaltar, ein Rondell, das aus drei ansteigenden großen Terrassen besteht. Bestimmt wird die Architektur des Altars von der kaiserlichen Zahl neun. So sind neun Steine im ersten Ring zu zählen, 18 Steine im zweiten Ring bis zu 81 Steine im neunten Ring, die neun Himmel symbolisieren. Eine runde Steinplatte im Zentrum des Altars gilt seit alters her für die meist chinesischen Besucher als Zentrum der Welt. Jeder chinesische Besucher will auf diesem Platz fotografiert werden und geduldig wird in der Warteschlange auf das Fotomotiv gewartet.

Die Botschaft des Marmorschiffs

Um zum Sommerpalast im Nordwesten der Stadt zu gelangen, der berühmten Anlage für klassische Gartengestaltung, ist eine längere Autofahrt bis zum 4. Ring der Stadt zu absolvieren und im Stau zu stehen. Irgendwann ist der Stau "durchgestanden" und der Sommerpalast erreicht. Ursprünglich das Geschenk eines chinesischen Kaisers für seine Mutter diente er später dem Kaiserhof als Sommerresidenz. Heute ist das riesige Areal von 240 Hektar eine Zuflucht für viele tausende Pekinger Rentner und zugleich ein Wallfahrtsort für die Touristen aus dem ganzen Land und aus aller Welt. Entsprechend den Regeln der chinesischen Gärten vereinigt er alle wichtigen Elemente der chinesischen Garten-Architektur mit Wasser, Felsen, Pflanzen und Brücken.

Es gibt eine Vielzahl von kaiserlichen Gebäuden wie die Hallen des Wohlwollens und der Langlebigkeit mit dem Thron des Kaisers. Obwohl zwei Mal durch anglofranzösische Truppen um 1860 und durch englische Soldaten um 1900 zerstört, ist er in vollendeter Schönheit wieder erstanden. Sehr eindrucksvoll sind in Nähe des Kunming-Sees lange Wandelgänge mit vielen Verzierungen und Deckenmalereien. Am Ende des Wandelganges liegt ein Marmorschiff am Ufer. Aus dem Material Marmor besteht allerdings nur der einer Welle nachempfundene Sockel, alles andere ist aus Holz gefertigt.

Das Schiff, am Ende des 19. Jahrhunderts gebaut, sollte die Stabilität der Qing-Dynastie symbolisieren. Der Bau sollte nachfolgenden Kaisern die Botschaft übermitteln, dass das steinerne Boot, welches die Macht des Kaisers darstellt, ständig vom Wasser als Symbol für die Bevölkerung getragen werden muss. Missbraucht der Kaiser seine Macht, wird sein Boot nicht mehr vom Wasser getragen und geht unter. Doch die Botschaft wurde bereits in der herrschenden Qing-Dynastie nicht beherzigt. Der letzte Kaiser musste im Jahr 1911 abdanken.

Tanzende Paare im Beihai-Park

Auch der 69 Hektar große Beihai-Park im Nordwesten von Beijing hat eine fast tausendjährige Geschichte, an deren Anfang ein mongolischer Großkhan einen kaiserlichen Garten anlegen ließ. Viele Jahrhunderte diente er den Herrschern als Sommerresidenz und ist ein klassisches Beispiel kaiserlicher Gärten mit Tempeln und Pavillons, mit Teichen und Seen, mit künstlich angelegten Landschaften. Eine malerisch gelegene Weiße Pagode auf der Jade-Insel inmitten eines kleinen Sees dominiert den Park. Chinesische Familien mit Kindern und Liebespaare wandern um den See. Besonders die fünf Pavillons am See haben es mir angetan. Hier erklingt Musik, Paare drehen sich beim Tanz, junge und ältere Spaziergänger haben auf Stühlen in den Pavillons Platz genommen, hören der Musik zu und schauen auf das glitzernde Wasser des Sees. Alles strahlt eine entspannte Atmosphäre aus. Ein starker Kontrast zu den Pracht-Boulevards der Innenstadt und den Verkehrsströmen der sechsspurigen Stadtautobahnen.

Die Große Mauer, bis zu 20.000 Kilometer langes Wahrzeichen Chinas

Sie ist und bleibt das erstrangige Wahrzeichen von China - die Große Mauer. Das berühmte Bauwerk schlängelt sich nördlich von Beijing durch bergige dicht bewaldete Landschaft. Ich besuche den Abschnitt Mutianyu, etwa 90 Kilometer vom Zentrum Pekings entfernt. Bei der 90 Minuten Autofahrt bleiben wir erstaunlicherweise innerhalb der Stadtgrenzen von Beijing. Obwohl wir auf den gut ausgebauten Straßen viele kleine Dörfer und Felder mit vielfach gleich großen Parzellen passieren, auf denen Mais, Weizen und Hirse angebaut werden. Die ländliche Region wurde durch die Hauptstadt eingemeindet. Eine Erklärung dafür, dass das Verwaltungsgebiet Beijing heute offiziell etwa 20 Millionen Einwohner ausweist. Mit den nicht gemeldeten Einwohnern kommen noch ein paar Millionen dazu. Ähnlich unscharf wird es, wenn exakt die Länge der Großen Mauer bestimmt wird. Niemand weiß genau, wie lang die Mauer wirklich ist.

Bei den Chinesen heißt die Mauer auch "Wan li" was so viel wie die Zahl 5.000 bedeutet. Da sie zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten gebaut wurde, beginnend schon vor 2700 Jahren (!), teilweise nicht miteinander verbunden und zu großen Teilen zerstört, ist ihre wahre Ausdehnung nicht exakt geklärt. Fachleute schätzen mittlerweile ihre Länge auf mehr als 20.000 Kilometer.

Die unterschiedlichen Angaben hängen damit zusammen, dass die Große Mauer ein System von Schutzbauwerken darstellt. Sie steht in China nicht wie damals zu DDR-Zeiten in Berlin auf Grenzlinien, sondern mitten im bergigen Land zur strategischen Abwehr von Feinden. Die Mauer hatte auch Wachtürme, auf denen per Feuer über lange Strecken Signale weitergegeben wurden. Die Große Mauer fungierte also auch als Alarmanlage beim Anrücken der Feinde, zuallererst der Reitervölker aus dem Norden. Nur ein kleiner Teil der Mauer wurde restauriert, andere Teile sind verfallen. Auch wurden über lange Jahre von chinesischen Anwohnern Steine der Mauer als Baumaterial genutzt. Seit 2006 wird die Mauer geschützt.

Steinerne Schlange mit Bergpanorama

Die erste Überraschung: Die Große Mauer wurde auf einem Bergkamm gebaut, der in einem eineinhalb Stunden Fußmarsch mit Klettern erreicht werden kann. In Mutianyu gibt es allerdings auch eine moderne Kabinenbahn, mit der der Besucher sehr bequem in wenigen Minuten oben auf die Mauer gleitet. Das Bauwerk ist einfach faszinierend, unerwartet groß und wuchtig. Die Mauer erhebt sich bis zu neun Meter hoch. Sie hat eine Breite bis zu acht Metern, führt auf und ab und wird nur durch Wachtürme unterbrochen. Da die Mauer dem Bergzug folgt und ihr Verlauf nicht gerade und zudem in beträchtlicher Höhe erfolgt, eröffnen sich schon nach wenig Dutzenden Metern immer wieder neue Sichten auf das Bergpanorama. Der Besucher schaut entweder hinauf oder hinab und sieht die Mauer wie eine steinerne Schlange, die sich durch die grüne Bergwelt windet. An manchen Stellen geht es sehr steil bergan. Fliegende Händler haben die Plattformen der Wachtürme erobert. Sie haben einen bunten Sonnenschirm und meist auch die rote Nationalflagge Chinas aufgepflanzt. Da nur die Ecktürme und Wachhäuser ein wenig Schatten bieten, ist der Wanderer auf der Mauer total der Sonne ausgesetzt. Ich habe Glück, denn an diesem Tag ist der Himmel zeitweise bewölkt. Die gigantische Mauer, heute der Stolz der Chinesen, bot in den früheren Zeiten keinen wirklichen Schutz vor Mongolen und Mandschuren. Das Bauwerk war uneffektiv und hielt den Lauf der Zeit nicht auf. Das kennen wir auch von der Berliner Mauer. Allerdings entwickeln die Mauern in China und Berlin gerade in der Gegenwart eine ungeheure Anziehungskraft auf Touristen. Daher werden mehr und mehr Abschnitte kostenaufwendig und zum Teil unter Verwendung der alten Mauersteine restauriert und für den Besucher freigegeben. Hier in Mutianyu ist bereits alles gut in Schuss gebracht, zur Freude der zahlreichen in- und ausländischen Besucher.

Text und Fotos von Ronald Keusch

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